Recht der Pflichtverteidigung neu geregelt

Verhaften … bis der Anwalt kommt ...

Um die Jahreswende 2019/20 sprach sich in den Amtsstuben der Justiz allmählich herum, dass der Bundesgesetzgeber mit Wirkung ab dem 13.12.2019 zwei EU-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt hatte. Die Gesetzesnovelle brachte gravierenden Änderungen für das Recht der Pflichtverteidigung in §§ 140 ff. StPO.

Die wichtigsten Neuerungen seien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) kurz zusammengefasst:

 

Die einzelnen Tatbestände der notwendigen Verteidigung sind weiterhin in § 140 StPO normiert.

Nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist ein Pflichtverteidiger auch bei einer zu erwartenden erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht zu bestellen; nach bisherigem Recht galt dies nur bei Hauptverhandlungen im ersten Rechtszug vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht. Diese Erweiterung ist nicht von so großer Bedeutung, da schon nach der bisherigen Rechtsprechung eine Straferwartung zwischen zwei und vier Jahren Freiheitsstrafe, die eine Anklageerhebung beim Schöffengericht indiziert, einen Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO begründete. Bei Verbrechenstatbeständen, die zum Schöffengericht angeklagt werden, galt und gilt dies zudem nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Weitaus praxisrelevanter ist dagegen die Neufassung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO. Hiernach muss schon bei einer Vorführung vor ein Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung ein Pflichtverteidiger mitwirken. Dabei handelt es sich um eine Vorverlegung des Zeitpunktes, ab dem ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss. Nach bisherigem Recht galt dies erst ab Vollstreckung der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung.

§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO regelt nun, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung immer dann vorliegt, wenn der Beschuldigte sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet, also beispielsweise Strafhaft verbüßt. Auch hier findet eine Vorverlegung des Zeitpunktes für eine notwendige Verteidigung statt. Nach altem Recht galt eine Haftdauer von drei Monaten und keine Entlassung mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung als Voraussetzung für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Der Auffangtatbestand des § 140 Abs. 2 StPO enthält nun neben der Schwere der Tat und der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage zusätzlich die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“.

Zum Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers bestimmt § 141 Abs. 1 StPO neuerdings, dass dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Über diesen Antrag ist spätestens vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm zu entscheiden. Von Amts wegen und unabhängig von einem Antrag ist dem Beschuldigten unter anderem ein Pflichtverteidiger zu bestellen, sobald er einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll (§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO).

Eine wichtige Ausnahme regelt § 141 Abs. 2 Satz 2 StPO für die Fälle der Verkündung eines Hauptverhandlungshaftbefehls nach §§ 230 Abs. 2, 329 Abs. 3 StPO oder beim Haftbefehl im beschleunigten Verfahren nach § 127b Abs. 2 StPO. Hier darf eine gerichtliche Vorführung grundsätzlich auch ohne Pflichtverteidiger stattfinden; erst wenn der Beschuldigte nach Belehrung dies ausdrücklich beantragt, ist ihm ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Nach § 142 Abs. 1 StPO stellt der Beschuldigte den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft hat den Antrag unverzüglich dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorzulegen. In den Fällen, in denen – beispielsweise bei einer beabsichtigten Haftvorführung – ein Pflichtverteidiger von Amts wegen bestellt werden muss, stellt die Staatsanwaltschaft unverzüglich den entsprechenden Antrag (§ 142 Abs. 2 StPO). Bei besonderer Eilbedürftigkeit kann auch die Staatsanwaltschaft über die Bestellung entscheiden; sodann beantragt sie binnen Wochenfrist die gerichtliche Bestätigung der Bestellung (§ 142 Abs. 4 StPO).

Der Beschuldigte hat das Recht auf freie Wahl seines Verteidigers. Vor der Bestellung ist ihm deswegen auch in Eilfällen Gelegenheit zu geben, einen Pflichtverteidiger seiner Wahl zu benennen. Dieser ist grundsätzlich zu bestellen, wenn kein wichtiger Grund entgegensteht. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht (§ 142 Abs. 5 StPO).

Die Voraussetzungen eines Verteidigerwechsels regelt jetzt § 143a StPO. Hiernach hat der Beschuldigte umfassende Rechte auf Auswechslung des ihm zunächst bestellten Pflichtverteidigers.

Das von der Rechtsprechung erfundene Institut des „Sicherungsverteidigers“ hat in dem neuen § 144 StPO erstmals eine gesetzliche Grundlage gefunden. Nach dem neuen Recht können dem Beschuldigten zusätzlich zu einem Wahl- oder Pflichtverteidiger bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfangs oder Schwierigkeit, erforderlich ist.

Die gerichtlichen Entscheidungen sind mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§§ 142 Abs. 7, 143 Abs. 3, 143a Abs. 4, 144 Abs. 2 S. 2 StPO).

Auswirkungen für die Praxis

Kommt es künftig zu Haftvorführungen insbesondere im richterlichen Eildienst, kann die zeitnahe Bestellung und Mitwirkung eines Pflichtverteidigers bei der Vorführung zum Stresstest für den Richter werden, aber auch für den Rechtsanwalt, dem zugemutet wird, auf telefonischen Zuruf, auch am Wochenende und an Feiertagen, alles stehen und liegen zu lassen, um zum Vorführungstermin zu Gericht zu eilen.

Wegen der Zeitvorgaben der §§ 115, 115a StPO wird eine polizeiliche Vernehmung des Beschuldigten vor einer Haftvorführung seltener möglich sein, so dass in vielen Fällen eine Äußerung des Beschuldigten zum Tatvorwurf erstmals beim Haftrichter erfolgen wird. Ob dieser Effekt die Begründung des Haftbefehlsantrags durch die Staatsanwaltschaft, aber auch die Entscheidung des Gerichts über den Erlass des Haftbefehls erleichtert, darf bezweifelt werden, ist aber vom Gesetzgeber bewusst gewollt.

Alles in allem wird man die Titelzeile doch ein wenig modifizieren müssen:

Verhaften … wenn ein Anwalt kommt …